Leipziger Volkszeitung interview

Wie ist die Serie „Denkmal Straße“ entstanden? Wie ist der Autor bei seinen Recherchen vorgegangen – und welche Erkenntnisse nimmt er aus seiner Arbeit mit? Torsten Hattenkerl im Interview.

Published on the 2nd of August 2014 as an introduction to the series “Denkmal Straße”

Ursprung Ihrer Arbeit ist das Seminar „Orte, die man kennen sollte“ (siehe unten stehender Beitrag). Sie haben auf dieser Basis 200 Straßen und Plätze in Leipzig fotografiert, die nach Opfern des Nationalsozialismus oder nach Widerstandskämpfern benannt sind. Ein ziemlicher Aufwand…

Es ist ein sehr spannendes Thema, und es gab bisher keinerlei Visualisierung all dieser Straßen. Ich wollte alle Orte besuchen und fotografieren, eine vollständige Dokumentation schaffen. Das hat mich drei Jahre lang beschäftigt. Was mit dem Material nun passiert, wird vielleicht neu beantwortet, wenn die Serie bei Ihnen gelaufen ist.

Wie kann man sich das vorstellen? – Sie haben da eine Liste mit 200 Straßen – und dann fahren Sie überall hin und machen irgendwo ein Foto?

Ich bin die Straßen komplett abgegangen und habe Fotos gemacht. Die Bilder sind einerseits statisch-dokumentarisch: So sieht die Straße aus, wenn ich sie der Länge nach ins Bild setze. Und es gibt Motive aus dem Ergehen und Erfahren des Ortes: ein Gebüsch, eine Gebäudeecke, eine Kreuzungssituation.

Sie suchen nicht nach historischen Bezügen, sondern dokumentieren und bilden die Gegenwart ab?

Genau, es handelt sich ja nicht um authentische Handlungs-, sondern abstrahierte Gedenkorte. Nehmen Sie die Gerhard-Ellrodt-Straße. Der 1949 gestorbene Kommunist und spätere SED Aktivist hat dort nicht gelebt. In der Gegenwart bewege ich mich von der Peripherie Leipzigs langsam in den Süden nach Großzschocher – da gibt es sehr viel anzuschauen. Die Straße ist nicht durch ein Foto abzubilden. Ich muss mich immer wieder neu entscheiden. Andererseits haben Sie Stichstraßen, die sind nur 100 Meter lang – manchmal kann man sich dort aber auch genauso lange aufhalten, wie auf mehreren Kilometern.

Wie sind Sie im Anschluss an die fotografische Dokumentation vorgegangen?

Ich bin kein Historiker und habe deshalb Dr. Johanna Sänger vom Stadtgeschichtlichen Museum hinzugebeten, die zu Straßenbenennungen in der DDR promoviert hat und die Autorin der vorliegenden Texte ist. Wir haben gemeinsam über Auswahlkriterien gesprochen: Wie kann man es schaffen, diese Serie von 18 Bildern repräsentativ für die 200 zu gestalten?

Was waren am Ende Ihre Kriterien?

Die Serie sollte das Leipziger Stadtgebiet möglichst umfangreich erfassen. Aber das allein wäre kein gutes Auswahlkriterium gewesen. Es geht zunächst aus historischer Perspektive darum, die verschiedenen Widerstandsgruppen und –hintergründe in ihrer Breite darzustellen, stadtgeschichtlichen Entwicklungen in Hinblick auf Wohnungsbau und Architektur gerecht zu werden, auch die verschiedenen politischen Systeme der letzten 70 Jahre zu reflektieren. Natürlich muss ich aus meiner Sicht auch der Überzeugung sein, ein gutes Bild und eine funktionierende Serie, statt einer bloßen Aufzählung von Fakten, geschaffen zu haben.

Gab es bei Ihrer Arbeit Überraschungen?

Überraschend waren die ungeplanten Begegnungen und Gespräche mit Personen, die sich mit etwas Ähnlichem beschäftigen. Oder mit Personen, die auf Distanz gehen; es ist ja kein leichtes Thema. Es hat nicht für jedes Bild geklappt, aber ich habe immer versucht, Situationen herbeizuführen und mit Leuten zu reden. Etwa über die Frage: Wissen Sie, wo Sie wohnen? Viele haben mich auch angesprochen und gefragt: Was machen Sie hier mit Ihrer Kamera? Da gab es interessante Gespräche, die oft ganz kurz waren, aber Grundsätzliches berühren konnten.

Erzählen Sie mal…

Im Rudolf-Breitscheid-Hof in Böhlitz-Ehrenberg findet sich Architektur aus den 30er Jahren sozusagen als Denkmal gegen den Nationalsozialismus wieder. Eine Frau erzählte mir dort: „Der Hitler hat ja damals hier viel gebaut“. Das war eben das, was dort unmittelbar bekannt war. Die Verbindung zur erinnerten Person wurde gar nicht hergestellt. Ein anderes Erlebnis ist mir aus der „Straße der 53“ in Lindenthal in Erinnerung geblieben. Dort fanden zu DDR-Zeiten jährliche Gedenkaufzüge statt. Ein älterer Mann erzählte, das sei mal die am besten geteerte Straße Leipzigs gewesen – wegen dieser Märsche. Er merkte dann, dass das ein heikles Thema ist und schloss mit dem Satz ab: „So, jetzt sind wir informiert.“ Das ist ein schöner Kernsatz: Man bekommt etwas erzählt – und es wird erwartet, dass man jetzt ausreichend informiert ist. Dabei hat mich die Aussage noch viel neugieriger gemacht hat. Was ist da los? Warum ist das Denkmal der 53 schon fast wieder in Vergessenheit geraten – trotz seiner Bedeutung? Man muss hier natürlich zwischen Anekdoten und historisch Haltbarem unterscheiden.

Was haben Sie bei Ihren Recherchen noch festgestellt?

90 Prozent der entsprechenden Straßen sind nach Männern benannt. Dabei gab es viele Frauen im Widerstand. Hintergrund ist wohl die Benennung zu DDR-Zeiten, da lag der Fokus fast ausschließlich auf kommunistischen, antifaschistischen Biografien.

Es gibt also Unterschiede – etwa zur entsprechenden Benennung von Straßen in Westdeutschland.

Ja, die DDR hat den Kommunismus als primäre Kraft gegen den Faschismus gefeiert und gewürdigt, bürgerlicher Widerstand kam selten vor. In Westdeutschland war es genau umgekehrt. Das ist natürlich nur ein Aspekt der Geschichtsaufarbeitung, wird aber bei Straßenbenennungen besonders deutlich.

Was haben Sie für sich selbst aus dieser Arbeit mitgenommen?

Ich habe Leipzig besser kennen gelernt, viel über die Geschichte und darüber, wie die Stadt infrastrukturell, sozial und kulturell zusammenhängt, erfahren. Ich kann mit den reinen Bildern nichts über die Geschichte der Personen erzählen. Aber die Bilder erzählen etwas über die Gegenwart Leipzigs. Man könnte diese Gegenwart auch an 200 anderen Straßen ähnlich fotografieren, aber hier kommen zwei Komponenten zusammen, die ich gleichwertig nebeneinander sehe: die Bewältigung von Geschichte mittels einer „nachgeordneten Gedenkkultur“ einerseits, mein Interesse an Leipzig andererseits.

Was wäre für Sie ein gutes Ergebnis der Serie?

Inhaltlich ist es mir wichtig, Bilder und Texte über den LVZ-Lokalteil im alltäglichen Geschehen der Stadt eingebunden zu sehen. Nun bin ich gespannt, wie die Serie ankommt – auch als Frage an die Leipziger: Was denkt Ihr über das Gedenken? Ich habe immer die Öffentlichkeit als den Adressaten meiner Arbeit gesehen, wollte, dass meine Beschäftigung mit der Alltäglichkeit dieser Straßen und Plätze über die Tageszeitung in der Bevölkerung ankommt. Ich will das Alltägliche, was aber doch besonders ist, bewusst machen. Den Menschen vor Augen führen, dass sie an einem Denkmal wohnen. Ein schönes Ergebnis wäre, wenn jemand auf das, was er zu kennen glaubt, neu schaut. Wenn deutlich wird, dass das, was wir für alltäglich halten, immer einen zweiten Blick wert ist. Es gibt ein schönes Zitat vom Schriftsteller Robert Musil: Nichts ist unsichtbarer als ein Denkmal. Das trifft auch hier voll zu. Wer weiß schon, dass seine Straße auch ein Denkmal ist?